Tatort: Türkei, die geschichtlich schwerbeladene lykische Küste.
Es tut gut, endlich wieder zu Fuss unterwegs zu sein. Zwar ist es
momentan auch an der türkischen Küste noch kühl, aber von den grossen
Schneefällen, die es im Rest des Landes gegeben hat, sind wir verschont
geblieben. Und so wandern wir nun den Lykischen Weg, der sich über 500
Kilometer dem Mittelmeer entlangzieht.
Im Sommer soll es hier von englischen und deutschen Touristen nur so
wimmeln, jetzt sind wir ganz allein mit zahllosen Ruinen. Etwa so ähnlich muss
sich ein Dauerlauf durch einen archäologischen Vergnügungspark anfühlen. Immer
wieder gibt es dorische und ionische Säulen zu betrachten, Torbogen zu
passieren, Steinsarkophage zu bestaunen. Die Türken haben einen bewundernswert
pragmatischen Umgang mit dem Vergangenen: Altgriechische Tempel werden schon
mal mit Gewächshäusern umstellt, und grasende Schafe in einem imposanten
antiken Theater sind kein seltener Anblick. Schliesslich muss der Rasen ja
gemäht sein. Das nennt sich dann «türkische Denkmalpflege».
Auch das Geisterdorf Kayaköy gleicht einem riesigen Freilichtmuseum.
Einmal lebten Hunderte von griechischen Familien an diesem felsigen Berghang in
der Nähe der Küstenstadt Fethiye. Doch dann beschlossen die griechische und die
türkische Regierung 1922, einen Bevölkerungsaustausch zu machen. Griechen auf
türkischem Gebiet wurden nach Griechenland umgesiedelt und umgekehrt. Die
Menschen aus Kayaköy zogen nach Kreta und Athen. Für sie kamen griechische
Türken, doch als Bauern bevorzugten sie die fruchtbarere Ebene. Darum leben
heute in Kayaköy nur noch ein paar Ziegen. Durch die Häuserruinen kann man
herrliche Entdeckungstouren unternehmen, findet noch intakte Zisternen,
grasüberwachsene Treppen und verrusste Kamine. Ein Dach haben einzig die beiden
Kirchen im Dorf, bei den anderen Häusern sind die Dächer abgetragen worden.
Wahrscheinlich, weil die pragmatischen Türken das Holz als Baumaterial
gebraucht haben.
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 17. Februar 2012)
IMHO passendes Zitat dazu:
ReplyDelete"Einleitung – Kultur des Vergnügens
SACHA SZABO
Es ist bunt, es ist voll, es ist laut – das Vergnügen hat einen Ort gefunden,
an dem es sich manifestiert: den Jahrmarkt und dessen modernen
Verwandten, den Themenpark. Ursprünglich ein aus dem Althochdeutschen
stammender Begriff für ‚zufrieden stellen‘ fokussierte der Begriff
„Vergnügen“ ab dem 18. Jahrhundert stärker das Glücksmoment und
bedeutete ‚sich ergötzen‘. Bleiben wir bei der ursprünglichen Bedeutung
und fragen: Was ist es, das den Menschen zufrieden stellt?
Friede bezeichnet einen Zustand von Ruhe und Versöhntsein. Mit was
aber ist der Mensch in diesem Zustand versöhnt? Wenn wir über den
Menschen sprechen, so zeichnet er sich gegenüber dem Tier durch eine
„exzentrische Positionalität“ aus (Plessner). Denn der Mensch hat ein
Bewusstsein seiner selbst. Mit diesem Zustand entsteht für den Menschen
auch die Wahrnehmung von Zeitlichkeit, sowohl der Vergangenheit
als auch der Zukunft. Er ist darin Spezialist, Pläne zu entwerfen.
Aber zugleich inkludiert diese Antizipation von Zukunft eine Projektion
der eigenen Identität.
Die Grundstruktur, die diese Temporalität gestaltet, ist Sinn. Verbunden
mit diesem Akt ist zugleich die Empfindung der Unsicherheit über
den Verlauf der Zukunft, die Erfahrung der Endlichkeit des Lebens sowie
die Reflexion auf das Erlebte. Als Sekundäreffekte treten moralische
Qualitäten von Angst und Schuld an die menschliche Psyche heran.
Der Zustand der „Geworfenheit“ in die „Endlichkeit“ stellt für das menschliche
Erkenntnisvermögen eine paradoxe Kränkung dar, die rein
über eine Verstandeslogik nicht aufgelöst werden kann. Dieser Zustand
der Irritation der Wahrnehmung einer möglicherweise sinnlosen Existenz
kann vom Menschen nicht durch Sinn vollends erfasst werden.
Dieser Zustand der Irritation ist damit das „Reale“ (Lacan) der menschlichen
Natur. Gleichwohl lässt sich dieser Zustand nur schwer aushalten.
An diesem Punkt entsteht menschliche Kultur.
Kultur des Vergnügens
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Sinnordnungssysteme entlasten den Menschen vom Wissen über seine
rein diesseitige Existenz. Diese Sublimationen der realen Existenz verschleiern
dem Menschen das Reale. An die Stelle des Realen stellt sich
die Realität als symbolische Ordnung. An diesem Punkt stehen die kulturphilosophischen
Diskurse in Opposition. Einerseits wird das Vergnügen
als Eskapismus angesehen, der dem Menschen einen scheinbaren
Ausweg aus bedrückenden Verhältnissen offeriert, ihn aber tatsächlich
umso tiefer in die entfremdenden Strukturen verstrickt. Andererseits
zeugt allein das Bedürfnis des Menschen, seinem Alltag entfliehen
zu wollen, von einem Bedürfnis nach Alterität.
Zu diesen beiden Positionen lässt sich noch eine dritte hinzufügen:
Wenn wir die Kultur als Sublimation des Realen verstehen, so erfüllt
Kultur eine paradoxe Funktion. Indem sie den Menschen vom Realen
entlastet, nimmt sie ihm auch die Kompetenz, dieses Reale unmittelbar
auszuhalten. Bemerkenswerterweise gibt es innerhalb der Kultur
„Wurmlöcher zum Realen“ (Uerz), die dem Menschen eine Möglichkeit
bieten, sich temporär dem Realen zu exponieren, und damit auf das
menschliche Bedürfnis nach Unmittelbarkeit reagieren. Und die Erfahrung
dieser Unmittelbarkeit wird als geglückter Moment empfunden.
Genau diese Möglichkeiten sind im Begriff der Kultur vereint. „Cultura“
meint im Lateinischen sowohl ‚Bearbeitung‘ als auch ‚Pflege‘. Damit entsteht
der Begriff der Kultur als Prozess der Zivilisation, der Sublimation
materieller und immaterieller Güter. Gleichermaßen umfasst der Begriff
Kultur auch das Aufrechterhalten bestimmter Biotope, bestimmter Lebens-
oder grundlegender Existenzräume. Kultur ist damit nicht nur die
Tür, die dem Menschen den Zugang zum Realen verwehrt, sondern
gleichermaßen das Tor, mittels dessen der Mensch das Reale erfahren
kann."
Truth is a pathless land
ReplyDeletehttp://de.wikipedia.org/wiki/Jiddu_Krishnamurti
Ich behaupte, dass die Wahrheit ein pfadloses Land ist und dass es keine Pfade gibt, die zu ihr hinführen – keine Religionen, keine Sekten. Das ist mein Standpunkt, den ich absolut und bedingungslos vertrete. Die Wahrheit ist grenzenlos, sie kann nicht konditioniert, sie kann nicht auf vorgegebenen Wegen erreicht und daher auch nicht organisiert werden. Deshalb sollten keine Organisationen gegründet werden, die die Menschen auf einen bestimmten Pfad führen oder nötigen. Wenn ihr das einmal verstanden habt, werdet ihr einsehen, dass es vollkommen unmöglich ist, einen Glauben zu organisieren. Der Glaube ist eine absolut individuelle Angelegenheit und man kann und darf ihn nicht in Organisationen pressen. Falls man es tut, wird er zu etwas Totem, Starrem; er wird zu Gier, zu einer Sekte, einer Religion, die anderen aufgezwungen wird. […] Ich möchte keiner spirituellen Organisation, ganz gleich welcher Art, angehören, und ich bitte euch, das zu verstehen. Ich betone noch einmal, dass keine Organisation einen Menschen zur Spiritualität führen kann. Wenn eine Organisation zu diesem Zweck gegründet wird, so wird sie zu einer Krücke, die euch schwächt, zu einem Gefängnis. Solche Organisationen verkrüppeln das Individuum, hindern es daran zu wachsen und seine Einzigartigkeit zu leben, die ja darin liegt, dass es ganz alleine diese absolute, uneingeschränkte Wahrheit entdeckt. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass ich mich – da ich der Präsident des Ordens bin – entschlossen habe, den Orden aufzulösen. Niemand hat mich zu dieser Entscheidung gedrängt oder überredet. Das ist keine großartige Tat, denn ich will keine Jünger oder Anhänger; ich meine das so, wie ich es sage. In dem Moment, in dem man beginnt, jemandem zu folgen, hört man auf, der Wahrheit zu folgen.“